Einst, bevor Senàs vom Himmel fiel, gab es einen gewaltigen Eiswolf, dessen Zähne lang wie zwei Finger zusammen waren.
Dieser Mächtigste aller Wölfe, mit einem Körper größer als alle Schneetiger, pflegte den Chel-čén im Sommer zu
folgen auf ihrer immerwährenden Wanderung und riss sie in Scharen. Nur im Winter, wenn die Čén wieder gen Norden
zogen, blieb er in seinem Versteck. Viele verschlang er mit einem einzigem Haps. Schließlich fasste eine junge čén
gegen den Rat vieler anderer Mut und folgte ihm in sein Versteck in den Weiten des ewigen Eises.
Die junge Čén wurde Ger-Arch genannt, ("jagt in Hoffnungslosigkeit"). Sie folgte den blutigen Fußspuren des großen
Eiswolfs in die Ödnis, dort wo der festeste und kälteste Schnee liegt, der niemals taut. Die Kälte brannte ihr in Mark und
Bein, ihr Körper schmerzte mehr und mehr auf dem langen, schier endlosem Marsch durch die ewig finstere Winternacht über
den in helles blau getauchten Schnee. Schon einige Tagesmärsche hatte sie zurückgelegt von ihrer Herde, doch sie konnte nicht
mehr umkehren, war der Weg doch zu lang.
Nach einer weiteren Tagesreise wurde der Schnee zu Eis, und sie vernahm sein Knacken und Knistern und meinte, darin die
Worte der Alten zu hören:
"Der große Wolf hat Hunger. Keine Pflanzen wachsen auf der weißen Ödnis, und er könnte sie ohnehin nicht kauen. Drum
ist er so ohne Erbarmen, denn Hunger treibt ihn an. Wir jedoch hetzen unsere Beute nicht, und wir folgen ihr auch nicht.
So wirst du schwächer sein als er, und drum ist's dumm, misst du dich mit dem Jäger. Viele von uns mag er verschlingen,
doch genug überleben hier auf der Steppe. Auf eisigem Grund jedoch wirst wenig Halt du finden, und da du sein Land nicht
kennst, wird er dich überraschen und verschlingen ob deines dummen Plans."
Wieder und wieder hallten die Worte durch ihren Kopf, bis sie sich die Ohren zuhielt, weil sie das Knacken nicht mehr
aushielt. Und mit einem Schwall ihres warmen Atems stieß sie zugleich etwas tief aus ihrem Innern aus:
"Er kommt zu uns beinahe aus dem Nichts, jagt uns in der Nacht, folgt uns jaulend und zähnefletschend und wirft nach einer
qualvollen Weile erst einen von uns hoch und in sein Maul! Warum sollten wir uns nicht wehren gegen solche Gewalt?"
Müde und verzweifelt sank sie in das kalte Nichts, das sie umgab. Nach ein paar Augenblicken spürte sie den heißen
Atem hinter sich, und als sie ihre Augen rückwärts richtete, sah sie nichts als zwei große goldgelbe Augen in der
bläulichen Nacht. Dann fletschte das Biest seine Zähne, und ihr war, als würde es zu ihr mit tiefer Stimme sprechen:
"Ich bin der große Eiswolf. Ich fresse, wenn der Hunger mich fast verbrennt, und ich reiße, wen ich kriege!"
Dann stürzte das Untier nach vorn, und die großen Zähne seines Mauls waren verschmiert von Blut und furchteinflößend.
Und einen Moment wollte Ger-Arch davonrennen oder sich ängstlich dem Großen ergeben. Aber dann, mit dem Mut, der in
ihrem tiefsten Innern jenseits der Gedanken wohnte, stieß sie sich zur Seite und löste ihre Harpune von ihrer Flanke
und stach in das rechte Auge, als es an ihr vorbeikam. Die Waffe zerbrach, das Blut spritzte im hohem Bogen, bis zu
einem der Monde, und durchtränkte ihn, sodass er seither blutrot bleibt. Der Große Wolf heulte laut auf vor Schmerz,
krümmte und drehte sich auf die andere Seite, und Ger-Arch nahm ihre Keule und hämmerte auf ihn ein, und bald bewegte
er sich nicht mehr. Wieder müde sank sie zu Boden, bald so kalt wie ein Stein.
Da berührte sie vorsichtig den toten Körper, nur um zu spüren, dass es wirklich war - dass der Große Wolf sein Leben
ausgehaucht hatte. Der riesige Leichnam war noch warm, und so halbierte sie ihn und trug eine Hälfte der Wärme wegen
als Schutz auf dem Heimweg.
Immer wieder schaute sie auf das noch halb intakte linke Auge und die großen, gelb angelaufenen Zähne. Obwohl der
Kadaver schrecklich stank, erinnerte er sie doch an jene kleinen Tiere, welche die Chel-Čén selbst erlegen.
Schließlich erreichte sie ihre Herde wieder.
Alle staunten, waren stolz auf sie und schauten sich den Leichnam an. Da sie wenig hatten, kochten sie das Fleisch und
verteilten es an die Herde. Auch Ger-Arch aß von dem Fleisch, während sie am Feuer saß. Dann ging sie zu den Alten,
mit denen sie noch nicht wieder Worte gewechselt hatte seit ihrer Rückkehr.
Und die Alten fragten:
"Hast du ihn getötet?"
Und sie sagte "Ja."
"Werden wir jetzt Ruhe haben?"
"Nein."
"Warum?"
"Weil Ruhe den Tod bedeutet. Leben bedeutet Wandlung, Hunger und Flucht. Wir sind wie er, weil wir leben. Und andere
auch, weil sie eben leben. So ist der Lauf des Lebens. Fressen und gefressen werden sind nur zwei Seiten ein und
derselben Klinge. Wenn wir das Recht auf Freiheit und die Wahl des Weges haben, dann steht sie allen zu."
So ist das Leben.
(dr)
Folgende Version der Legende hörte man letzthin eine Geschichtenerzählerin im Lande Nen'ya, weit entfernt
von den eisigen Steppen des Südens, vortragen. Das Volk der čén ist dort unbekannt und seine Lebensauffassung,
durch das harte Leben in der Kälte, kann in diesen Gegenden nur schwer nachvollzogen werden. So mögen die Abweichungen
in der Aussage erklärt werden.
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...und so folgte Ger-Arch dem Eiswolf in die Ödnis, die nicht aus Stein bestand, sondern aus dem festesten und
kältesten Schnee, der niemals taut. Die Kälte brannte ihm in Mark und Bein, seine Beine schmerzten auf dem
endlosen Marsch durch die lange Nacht des Südens, die die Schneewüste in tiefes Blau tauchte.
Weit, schon einige Tagesreisen war er nun schon fort von seinem warmen Heim und seinem Weibe, aber der Weg war
schon zu lang gewesen, als dass er hätte jetzt noch umkehren können.
Nach einer weiteren Tagesreise in der Dunkelheit konnte er das Eis mit sich sprechen hören; sein Knacken und
Knistern formte sich in seinen geplagten Ohren zu Worten:
"...darum fordere nicht den großen Eiswolf heraus, Ger-Arch, es ist sein Recht sich Deine Kinder zu holen, wenn in
ihm der Hunger nagt. Du darfst ihn nicht töten, denn so wären alle Menschenvölker nicht mehr Teil der Welt, sondern
würden die Feinde aller Tiere werden, mit denen ihr alle so lange in Frieden gelebt habt. Bedenke, Ger-Arch, es
sind auch Deine Kinder, die ihre Speere gegen alle Tiere wenden müßten. Bedenke es..."
Und Ger-Arch hielt sich die Fellhandschuhe an die Ohren, da er das Knacken und Knistern des Eises nicht mehr
aushalten konnte. Er versuchte die Stimmen in seinem Inneren schreiend zu übertönen:
"Er kommt zu uns in der Dunkelheit und nimmt uns unsere Kinder im Namen aller raubenden Tiere dieser Welt - und das
soll ich ihm verzeihen? Wie wäre es, wenn wir Völker keinem der Tiere mehr irgendeines unserer Kinder übergeben?
Warum sollten wir uns nicht gegen sie alle wehren?"
Weinend und verzweifelt sank er in das weiße Nichts, das ihn umgab und spürte dabei heißen Atem in seinem Rücken.
Als er sich umdrehte, konnte er nichts weiter erkennen als zwei goldgelbe Augen in der bläulichen Nacht. Er nahm
eine weitere, eine tiefe, brummende Stimme war - die Stimme des großen Eiswolfes.
Und so sprach der Eiswolf, der Größte aller Räuber, der in diesem bläulichen Dunkel nur wegen seiner leuchtenden
Augen wahrnehmbar war:
"Warum Du Dich nicht gegen uns wehren sollst, fragst Du? Deine Vorfahren waren es doch schließlich, die mit uns
den Vertrag schlossen. Er besagt schon seit Anbeginn des Lebens, dass ich mir als einziger Opfer aus den Reihen
Eurer Kinder holen darf, und dafür werdet ihr alle von den Angriffen meiner raubenden Kinder verschont. Warum
grämst Du Dich darüber so? Sollen meine Herden zusammen mit mir über Eure Hütten herfallen?"
Ger-Arch beugte sich, gestützt auf seinen Speer, so nahe wie möglich an den Großen heran und sah ihm in die Augen.
"Weil in Zukunft keines unserer Kinder mehr von Euresgleichen heimgesucht werden wird - denn ich mache hier ein
Ende."
Und so rammte er seinen spitzen Knochenspeer tief in das rechte Auge des Wolfes. Sein Zorn über das verlorene Kind
machte ihn stärker als tausend Bären. Und noch während der Große Eiswolf sich vor Schmerzen krümmte, blendete
Ger-Arch ihm auch das linke Auge. Durch die Tiefe der Hiebe tödlich verletzt, sank der Große und einst Mächtige auf
das Eis und rotes Blut tränkte den hellblauen Grund.
Ger-Arch nahm die Haut des Wolfes und wärmte sich in seinem Fleische, so daß er den Weg zurück zu seinem Weibe
wagen konnte. Er fand zurück, doch seither sind die Menschen und die Tiere in ewiger Feindschaft gefangen. Ein
ewiger Kampf verleiht nur dem Sieger das Leben.
(nn)
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