5. Nenir 1132, etwa 15 Tagesreisen vor Bajanzadgad
Ich wurde doch noch mal krank und hatte schweres Fieber. Ich danke Ganian, dass ich noch am Leben bin. Meine
Schuppenflechte hatte sich entzündet und mein Körper war von nässenden Wunden übersät, ich konnte nichts bei mir
behalten. Bei Cewein, ich sah schon das Licht, das den Übergang in die andere Welt ankündigt, aber meine Zeit ist
noch nicht gekommen.
10. Nenir 1132, noch 10 Tage bis Bajanzadgad
Mir geht es schon viel besser. Das Land sieht hier gesünder aus als in Gulurdyn. Es ist zwar trocken, aber die
Luft ist gut, fast wie in meiner Heimat. Allerdings wachsen hier viel mehr Pflanzen und es gibt mehr Wasser.
Vielleicht ist sie hier irgendwo, vielleicht ist sie in diesem Augenblick gar nicht so weit von mir entfernt.
Vielleicht lebt sie auch schon seit Jahren nicht mehr, NEIN, so etwas darf ich gar nicht denken. Ich spüre, dass
sie noch lebt, und dass sie an mich denkt, jeden Tag, und auf ihre Rettung wartet. Ich werde sie nicht
enttäuschen, NIE!!!
20. Nenir 1132, eine Tagesreise vor Bajanzadgad
So viele Zhubair! Es müssen Tausende sein, die hier leben, dabei sind wir noch nicht mal in Bajanzadgad. Und
alles ist so... friedlich.
Die Zhubair hier leben wie die Bauern bei uns, nur dass sie nicht so viel Wert auf ihren Körper und ihr
Wohlbefinden legen. Aber meine Begleiter scheinen diese Ulaichan zu verachten. Ich habe gehört, wie sie sagten,
dass das Unglück nur durch diese Weichlinge über sie hereinbrechen konnte und nur der Weg des Kriegers sei der
Richtige.
Abends:
Jetzt weiß ich wieder, warum ich sie hasse. Heute wurden einige der Sklaven, die ihr Leben auf den Feldern
fristen müssen, in einem Kampf gegeneinandergetzt. Man hatte sie den Ulaichan-Bugdgiig abgenommen und einige der
Bauern erschlagen, als diese sich weigerten, ihre kostbaren Helfer herzugeben. Fast hätte es einen Kleinkrieg
gegeben, aber als Vradarash ihren Babogd kurzerhand geköpft hatte, waren sie froh, mit dem Leben davongekommen
zu sein und haben sich verzogen.
Es ist grausam, zu sehen, wie sie die Menschen gegeneinanderhetzen und sich mit primitiven Waffen bekämpfen
lassen. Was finden diese stolzen Krieger nur daran, den jämmerlichen Kämpfen armer Menschen zuzusehen? Soll es
sie in ihrem Überlegenheitsgefühl bestärken? Es ist grausam, nichts dagegen tun zu können, doch ich muss genauso
gröhlen und jubeln wie die anderen. Wie die anderen Menschen aus Angos. Sie verachte ich noch viel mehr als die
Zhubair, wenn das überhaupt möglich ist.
Ich habe keine einzige Frau unter den Sklaven gesehen. Ich hatte damit gerechnet, trotzdem erschüttert mich der
Gedanke, dass meine Gloinja missbraucht wird, um einem dieser Zhuchtochaij-Bastarde auf die Welt zu helfen. In
jedem von ihnen sehe ich ein Schicksal, das Schicksal einer verschleppten Frau, die wahrscheinlich nicht mehr am
Leben ist.
Ich muss stark bleiben, ich muss!!
21. Nenir 1132, vor den Toren Bajanzadgads
Es ist einfach überwältigend. Wir sind noch so weit entfernt, aber schon von hier sieht man sie. Die drei
gewaltigen Türme, die sich in die Luft erstrecken, rauben einem den Atem, wie wird es sein, direkt vor ihnen zu
stehen. Bei Cewein, was ist das für eine Stadt? Wer hat sie erbaut? Diese stinkenden haarigen Wilden waren es
ganz bestimmt nicht. Was für ein Volk ist in der Lage so etwas zu errichten,... und vor allem, was ist mit ihm
geschehen?
Ich kann das Gefühl, das mich beherrscht, nicht anders beschreiben als mit einer nie gekannten Ehrfurcht, und
dabei sind wir noch so weit von der Stadt entfernt.
Abends:
Wir haben uns der Stadt genähert, die letzten Meilen haben wir uns durch tausende Häuser bewegt. Richtige Häuser,
keine Fellhütten wie in den Steppen, sondern massive Häuser aus Holz und teilweise Stein, fast wie in Angos. Und
tausende, ja Zehntausende von Zhubair. Der Großteil unseres Trosses hat vor der Stadt ein Lager aufgeschlagen, wo auch
viele andere schon lagern. Wieviele Cagaans und Tamsags mögen hier sein?
Unsere Gruppe besteht nur noch aus Vradarash, seinen Beratern, einer 50 Mann starken Leibwache seiner besten
Krieger – allesamt Zhuchtochaij und ausnahmslos aus seiner Familie – und mir. Ich werde mitgehen, ich werde den
Usardash sehen!
Was geht hier vor? Die Stimmung ist gereizt, gelegentlich kommt es zu Kämpfen zwischen den Stämmen und auch
zwischen den Clans und Familien innerhalb der Stämme. Ein Geruch nach Gewalt und Blutdurst liegt über allem.
Am überwältigendsten ist allerdings die Stadt. Eine Mauer von bestimmt zwei Meilen Länge und mindestens so hoch
wie der Ferogturm in Angos. Doch wird sie in den Schatten gestellt von den gewaltigen Türmen, welche die Höhe der
Mauer bestimmt um ein fünffaches überragen. Ich habe so etwas noch nie gesehen. Berge, künstlich geschaffen von einer
unvorstellbaren Macht, alles überblickend, bewachend, beherrschend. Und in der Mitte die Pyramide. Nicht so hoch, aber
massig und von einer tiefschwarzen Farbe, die alles Licht zu schlucken scheint.
Morgen werden wir in die Stadt gehen, in die eigentliche Stadt. Ich bin unruhig und ich habe Angst.
22. Nenir 1132, Bajanzadgad
Heute morgen hatte ich noch Gelegenheit mir die Feste von außen anzuschauen. Sie ist wirklich gewaltig. Da das
Usar-Karkal erst am Abend sein wird, habe ich die Gelegenheit genutzt, die Feste einmal komplett zu umrunden, um
vielleicht irgendwelche Schwachstellen zu finden. Leider muss ich zugeben, dass ich nichts dergleichen gefunden habe.
Ich muss allerdings die Maße ein wenig korrigieren. Ich habe von verschiedenen Punkten mit den mir zu Verfügung
stehenden bescheidenden Mitteln Messungen durchgeführt und komme zu folgenden Ergebnissen:
Die Feste stellt ein gleichschenkliges Dreieck dar mit einer Kantenlänge von jeweils 2400 bis 2500 Schritt, die
Mauern führen zwischen 80 und 120 Schritt in einem Winkel von 60° in die Höhe, sind aber auf ihrer Oberseite
völlig eben, so dass der Höhenunterschied durch die unebene Grundfläche bedingt ist. Ich kann nicht beurteilen,
wie weit die Mauern in den Boden reichen. An jeder der drei Ecken ragt einer der gewaltigen Türme in den Himmel.
Nach meinen Berechnungen erheben diese sich von der Oberseite der Mauer aus etwa 300 Schritt in die Höhe. Die
Mauern der Türme haben den gleichen Winkel wie die Mauern der Feste und alle 45 Schritt einen etwa 15 Schritt
breiten Absatz, auf dem sich zumindest auf den beiden unteren Ebenen Verteidigungsanlagen befinden. Ich glaube
nicht, dass jeder der Absätze mit Geschützen versehen ist, da die Reichweite der oberen Absätze durch die
Entfernung zum Boden, der durch den Winkel der Mauern verursacht wird, recht eingeschränkt wäre.
Wie die gesamte Feste bilden auch die Türme ein gleichschenkliges Dreieck. An ihrer Spitze befindet sich
wahrscheinlich eine 30 Schritt durchmessende Plattform. Ich vermute, dass dort Aussichtsposten stationiert sind,
die das ganze Land überblicken können.
Es gibt nur einen einzigen Eingang zur Feste. Dieser befindet sich in der östlichen Mauer und beginnt schon
hundert Schritt von der Mauer entfernt als 20 Schritt breite Rampe und endet in der Mauer vor einem gigantischen
Tor, das sich in etwa 30 Schritt Höhe befindet und je 4 Schritt breit und hoch ist. Anders als die Feste an sich
wirken die Rampe und das Tor recht primitiv. Zwar sind auch sie gewaltig, doch die Ränder sind ungleichmäßig behauen
und die Steinquarder, aus denen sie bestehen, sind deutlich voneinander zu unterscheiden, während die Mauer – von
einigen kleineren Beschädigungen einmal abgesehen – eine nahezu spiegelglatte Oberfläche hat.
Die Pyramide in der Mitte der Festung, von der ich allerdings nicht viel sehen kann, ist von einem tiefen, alles
Licht verschluckenden Schwarz. Man kann sie nicht richtig fixieren und man kann nicht sagen, ob sie direkt vor einem
steht oder 100 Schritt weit weg ist. Ich habe gehört, in Tyr soll es eine ähnliche Pyramide geben. Was kann ein so
hochentwickeltes, friedliches und vor allem zivilisiertes Volk wie die Tyrianer mit den Zhubair gemeinsam haben? Oder
ist das Zufall? Liegt das Geheimnis tief in der Vergangenheit begraben und wartet darauf, das wir es ergründen?
Wer hat diese Festung bloß gebaut? Ich kenne keine Waffe, mit der man diese Feste erfolgreich angreifen könnte.
Wie soll man diese Mauern überwinden, wie gegen diese unvorstellbar mächtigen Türme angehen?
Ich bin heute mehr denn je froh über meine Ausbildung, die es mir gestattet, solch präzise Angaben zu machen und
ich danke Bereges dafuer, dass er mich die Lehren meines Meisters hat verstehen lassen.
Aber wäre nicht mein Weib mit mir und Abru nach Shedat gereist, das Alabastervorkommen zu begutachten, mit dem
der Palast des Loras Ysoch ausgekleidet werden sollte...
Der gute Abru, mein alter Meister, er hat sein Leben hingegeben, um das meiner Gloinja zu retten. Und wofür? Sie
wurde vor meinen Augen verschleppt und ich konnte nichts dagegen tun. Der kleinsten Bewegung unfähig, gelähmt
vom Gift der Zhubair, dem Gift der Angst, lag ich nur wenige Schritt entfernt, als man sie verschleppt hatte.
Noch heute spüre ich ihren fragenden Blick, der mich streifte, bevor man sie mit all den anderen in dieses
riesige Tier sperrte. Diesen flehenden Blick, der mich fragte: „Warum hilfst Du mir nicht? Warum? Warum?“
Die Tränen in ihren Augen brennen wie Gift in mir. Gift, das einen anderen Menschen aus mir gemacht hat.
Ich verabscheue mich dafür, dass ich ihr nicht beigestanden habe, aber ich muss mir immer wieder sagen, dass
ich nichts hätte tun können. Ich wäre tot und sie trotzdem in Gefangenschaft. Ich verabscheue mich auch dafür,
was ich meinen Landsleuten seither angetan habe, aber es musste sein. Ich kann keine Rücksicht auf andere nehmen,
erst recht nicht auf meine eigenen Gefühle.
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