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Aus den Tagebüchern des Goran Fejor - Teil 3

23. Nenir 1132, Bajanzadgad
Endlich wieder Gelegenheit zum schreiben, Es ist soviel passiert, ich weiß gar nicht, wie ich anfangen soll. Ich hatte meine Aufzeichnungen gestern gerade beendet und versteckt, da ging meine Tür auf und ich wurde zum Cagaan gerufen.
„Du bist jetzt seit vielen Jahren einer von uns“, sprach er zu mir. „Du durftest die Feste Bajanzadgad sehen und nun sollst Du mich zum Usar-Karkal begleiten, eine Ehre, die ich bis jetzt noch keinem Menschen eingeräumt habe, aber Du hast dich meines Vertrauens als würdig erwiesen und ich weiß Deinen Rat, der mir schon oft geholfen hat, zu schätzen. Du darfst an der Versammlung teilnehmen. Als mein Berater, das ist eine große Ehre, erweise Dich als würdig.“
Natürlich habe ich mich gefreut, aber anders als unser großer Cagaan dachte. Als Berater! Ich werde dem Usardash von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen.
Direkt danach wurden wir eingekleidet in – für Zhubair-Verhältnisse – prächtige Gewänder und Felle. Vradarash legte seine zeremonielle Kette aus Resten seiner getöteten Menschen um und hatte die Frechheit mich anzugrinsen und zu sagen „Wenn wir wieder in Angos sind, wirst auch du den Initiationsritus über dich ergehen lassen und zum Mann werden. Dann wirst auch du eine solche Kette erhalten, und den Ruhm Zhuchbahtaijs durch erschlagene Feinde mehren. Und du wirst dir die schönsten Frauen aussuchen können.“
Bei diesen Worten klopfte er mir auf die Schulter, die anwesenden Krieger gröhlten vor Lachen, und ich konnte mich gerade zurückhalten, nicht mit dem nächstbesten Schwert auf Vradarash loszustürzen.
Als wir unsere Behausung in der Nähe der Mauer verließen, konnte ich sehen, dass die ganze Stadt in Bewegung war.
Tausende Zhubair strömten in Richtung des Tores und es wurden immer mehr. Aus allen Richtungen kamen sie, auch unsere
Gruppe wurde rasch größer, da mehrere Tamsag der Ondorbulag sich uns anschlossen, so dass unser Zug rasch anschwoll. Die
Spitze bestand aus Vradarash, gefolgt von seiner Leibwache, an seiner Seite seine Berater, zu denen auch ich nun gehörte.
Beim Blick über die Schulter stellte ich fest, dass nicht der ganze Zug uns die Rampe hinauf folgte, sondern nur die
Zhuchtochaij, die Bajanchan und die Dzunteg. Die Ulaichan und Guuld blieben zurück und schauten uns ehrfurchtsvoll nach. Das gleiche war bei den anderen Stämmen der Fall, so dass insgesamt nur einige Tausend den Weg über die Rampe nahmen, während zehntausende zurückblieben, erwartend, was der Usar-Karkal ihnen bringen würde, welches Schicksal sich die Mächtigen für sie ausgedacht hatten.

„SCHAU NACH VORN! Es gehört sich nicht für einen der Berater des mächtigsten Cagaan nach hinten zu schauen, auf die Bauern und Frauen“, herrschte mich einer der anderen Berater, ein Neffe Vradarashs namens Urdyin Kragkahn, an. Er misstraut mir. Immer noch, obwohl ich soviel für seinen Stamm getan habe. Aber er hat ja recht, auch wenn er es nicht weiß. Ich werde ihn töten müssen, irgendwann.
Ich schaute also wieder nach vorn, in Richtung des gewaltigen Tores. Meine Wahrnehmungen vom Vormittag bestätigten sich. Das Tor und die Stücke der Mauer darumherum, die das Tor mit der großen Mauer verbanden, waren weitaus primitiver. Ein Werk, das ich den Zhubair schon eher zutraue. Trotzdem ein mächtiges Bollwerk aus mit Eisen beschlagenen, massiven, beindicken Bohlen, denen nur schwer beizukommen wäre.
Dieses Tor war aber nicht das einzige. Auf unserem Weg die Rampe empor, welcher uns etwa noch 200 Schritt in die Mauer hineinführte, bis sich das letze – und stärkste – Tor öffnete, zählte ich insgesamt 5 Tore, alle 50 Schritt eines. Jedes stärker als das vorangegangene. Die Seitenwände in der Mauer führten lotrecht in den Himmel und waren offenbar auf gleicher Höhe wie die äußere Mauer, so dass ihr oberes Ende nach jedem Tor immer näher rückte. Nachdem vor dem vierten Tor die Oberkante der Mauer nur noch etw 7 bis 8 Schritt entfernt war, war im nächsten Abschnitt eine Mauer auf der Mauer errichtet worden, so dass diese auch am Ende des letzten Ganges immer noch eine Höhe von 5 Schritt maß. Das letze Torhaus ist 10 Meter hoch und das Tor bestand aus massivem Eisen!
Ein ungeheurer Wert! Mit diesem Eisen könnte man eine ganze Armee ausrüsten. Und hier steht es nur herum; ich beginne mich immer mehr zu fragen, wer oder was diese Zhubair eigentlich sind.
Nach dem letzten Torhaus tritt man auf eine weite Ebene. Eine Stadt in der Stadt. Für Zhubairverhältnisse recht stabile und auch recht wohnliche Häuser sind großzügig verteilt, offensichtlich befinden sich hier oben hauptsächlich die Behausungen der Zhuchtochaij, des Stabes des Usardash und die Sitze der verschiedenen Stämme. Vradarash machte mich auf ein recht einfaches aber großes Haus in einigen hundert Schritt Entfernung aufmerksam, welches sein Stammsitz sei, wie er sagte, auch wenn er die meiste Zeit in Angos ist.
Die Straße führte geradewegs auf die nachtschwarze Pyramide zu.
„Ist dort die Versammlung?“ fragte ich Turaljakh, einen einigermaßen umgänglichen Zhubair, der die Kontrolle über die Nahrungsmittelzuteilung von Angos inne hatte.
„Nein. Die große Pyramide ist ein Geheimnis, das noch niemand enträtselt hat. Keiner kann sich Zutritt verschaffen. Man kann sie nicht kratzen und man kann sie auch nicht erklimmen, denn in dieser Pyramide wohnt der Geist Zhuchbahtaijs. Der Sitz des Usardash ist auf der uns abgewandten Seite der Pyramide.“
Dort wohnt die Seele, hier der Geist, jetzt möchte ich nur noch wissen, wo sein Körper rumliegt! Hauptsache, er liegt auch an einem Ort, wo man nicht so leicht herankommt.

Wir umrundeten also die Pyramide in einem weiten Bogen, wobei wir durch Parks kamen, über Plätze und an Gärten vorbei. Schließlich kamen wir auf einen riesigen Platz, sicherlich 300x300 Schritt groß. Direkt an der westlichen Spitze der Pyramide befand sich ein großer viergeschossiger Palast, der sich vor dem Hintergrund der Pyramide geradezu winzig ausmachte, dadurch aber nicht weniger bedrohlich wirkte. Im Gegenteil: Die massige Schwärze der Pyramide unterstrich den bedrohlichen Charakter des Herrschersitzes des Usardash. Der Palast und der gesamte Platz waren mit roten Fahnen mit dem Wappen der Archangai geschmückt. Nach Stämmen geordnet zogen nun alle Zhubair auf diesem Platz ein. Die Archangai nahmen die ersten Reihen ein, dann folgten die Ondurbulag und in absteigender Reihenfolge ihrer Bedeutung die restlichen Stämme. Ganz vorne, in direkter Nähe des Palastes standen die Cagaans und deren Berater. Nach etwa zwei Stunden hatten alle Aufstellung genommen. Der Platz war voller Wimpel und Fahnen, voller Krieger und Waffen. Man merkte förmlich das Knistern in der Luft, die Spannung, die für alle greifbar war. Ich fühlte mich äußerst unwohl. Ich war der einzige Mensch weit und breit und ich durfte nur hoffen, dass ich keinen Fehler gemacht hatte.

Welche Macht! Und all dies nur ein kleiner Teil ihrer Armeen, wie mir Turaljakh versicherte. Auch er war aufgeregt und zeigte mir diverse Cagaans und Tamsags, erklärte mir die Stammesbeziehungen und ihre Bedeutungen. Nicht viel, was ich nicht schon wusste, aber er musste reden und mir half es, eine vertraute Stimme zu hören.
Alles wartete voller Spannung auf den Usardash, bis plötzlich, kurz nach Sonnenuntergang, überall Fackeln aufleuchteten und große Feuer links und rechts des Palastes aufloderten.
Dann erschien der Usardash. Vom Dach seines Palastes schaute er auf seine Untertanen herab, beleuchtet von den zahllosen Fackeln und dem Schein der Feuer.
„WÜRMER! ABSCHAUM! UNWÜRDIGE! Wie habt ihr dem Zhuchbahtaij gedient? Habt ihr Blut vergossen? Oder seid ihr verweichlicht? Vermenschlicht?!“
Bei diesen Worten trafen mich einige Blicke, die ich nicht unbedingt freundlich nennen würde. Eher sah ich einen tiefsitzenden Hass in ihnen lodern. Ein tiefes Grollen ertönte aus zehntausend Zhubair-Kehlen.
„Habt ihr das Zeichen nicht vernommen, das uns der Seelenberg geschickt hat?!? Ich, Usardash Naiomron Thirklyiyk habe dieses Usar-Karkal einberufen um zu beraten, was zu tun ist. Seid ihr gewillt, etwas zu tun?“
Zustimmende Hochrufe ertönten. Ich muss zugeben, dass ich um mein Leben fürchtete. Sollte dies das Ende sein? Würde mich ein aufgebrachter Mob zu Tode prügeln?
„Die Cagaans der Stämme und ihre Berater kommen zu mir. Alle übrigen: Feiert! Ehrt den großen Gott mit eurem Leben und dem Blut von Menschen! Feiert den Tag des Zhuchbahtaij!“
Auf diese Worte des Usardash hin öffnete sich links und rechts vor dem Palast der Boden und eine Menschenmenge von nackten, angsterfüllten Männern und Frauen und Kindern quoll daraus hervor, geschubst und getreten von Kriegern, die ihre Schwerter und Fackeln in die Haut der schreienden Menge drückten.
Was nun passierte, werde ich meinen Lebtag nicht vergessen. Während sich die Cagaans und mit ihnen deren engste Vertraute nach vorne drängten, in Richtung des Palastes – wobei ich von „meinen“ Leuten in die Mitte genommen wurde, ging ein unglaubliches Gemetzel los. Ich konnte die Gesichter der Menschen sehen, die Angst in Ihnen; einer blickte mich direkt an und ich fühlte mich in der Zeit zurückversetzt. Ich konnte die Angst spüren, die Todesangst dieser Menschen, meines Volkes, aus welchem Land auch immer sie kamen. Ich roch den Geruch verbrannten Fleisches, angesengter Haare, den Geruch nach Blut. Ich hörte die Schreie durchbohrter Frauen, brennender Kinder und gepfählter Männer. Ich hörte das Brüllen der Horden hinter mir, das Brüllen meiner Feinde, die mein Volk in wahnsinniger Raserei abschlachteten.
Ein Mann, dem man bereits beide Ohren ausgerissen hatte, wankte in unsere Gruppe, alle machten ihm Platz, bis er vor mir auf die Knie fiel.
Er blickte mich an, Blut und Tränen im Gesicht, flehte er mich an, ihm ein Ende zu machen. Meine Gruppe wandte sich mir zu und wartete. Ich hatte das Gefühl, die Zeit stünde still, als vergingen tausend Ewigkeiten, wo doch nur wenige Sekunden verstrichen. Dann zog ich mein Harok und spaltete ihm den Schädel. Blut und Knochen besudelten mich. Dann ging alles ganz schnell, ich drehte mich um und schritt durch die Reihen gequälter Männer und Frauen und wo immer noch jemand am Leben war, erlöste ich ihn von seinem Leid. Kinder, Frauen und Männer, was auch immer mir lebendig in die Hände fiel – ich tötete sie alle. Hundert Blicke, hundert Leben, hundert Seelen, die ich nie vergessen werde. Das Erkennen auf den Gesichtern, wenn sie sahen, dass ich einer von ihnen war, das Aufblitzen von Hoffnung und das Erkennen, wenn meine Axt niedersauste, das Verlassen des Lebens in den Augen, die Leere, diese unendliche Leere, die sich in mir um so mehr ausbreitete, je mehr Menschen ich tötete.
Nie, nie, nie wieder werde ich einen Menschen töten. NIE WIEDER!
(aul)

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