Das Volk der Wächter
Die Dalré bezeichnen sich selbst als „Volk der Wächter“. Doch was hat es mit diesem Namen auf sich?
Uralte Überlieferungen der Dalré berichten von den dreizehn Urahnen der Tiere, die vor tausenden und abertausenden
von Jahren, als noch keine Monde oder Sterne die Nacht erhellten, im Gebiet der heutigen Dalreisteppe lebten. Die
dreizehn Tiere waren Löwe, Bär, Rabe, Eldor, Büffel, Schlange, Luscin, Hase, Ratte, Frosch, Wolf, Adler und Affe.
Durch die Steppen streiften auch die KachimRé (=„Morgentau-Menschen“), so rein und zart, so strahlend schön,
so schwach und flüchtig wie der Tau, der morgens auf den Gräsern liegt.
Die dreizehn Tiere erfreuten sich an ihrem Anblick und machten es sich zur Aufgabe, sie vor allem Unbill der wilden
Natur zu schützen. Doch nicht nur schön anzusehen waren die Morgentau-Menschen, sie hatten einen starken Geist und
konnten gar wundersame Dinge tun. Doch eingedenk ihrer schwachen Körper waren sie den Tieren dankbar für deren Schutz
und so lebten sie lange Jahre in Frieden miteinander.
Nach einem schier endlos scheinenden Zeitalter des Glückes und des Friedens wurden die Morgentau-Menschen auf einmal
vom Unglück heimgesucht: Immer des Nachts, wenn völlige Finsternis herrschte, verschwanden nach und nach mehr von
ihnen. Und mit jedem einzelnen der verschwand, erschien ein winziger leuchtender Punkt am nächtlichen Himmel. Nacht
um Nacht verschwanden mehr von ihnen und mehr und mehr Lichtpunkte erschienen des Nachts. Die Morgentau-Menschen
flehten die Tiere um Hilfe an, denn es wollte nicht weit entfernt an den nächtlichen Himmel verbannt werden. Die
Tiere versprachen, über die Morgentau-Menschen zu wachen, denn sie wollten ihre Freunde nicht verlieren.
Und so wachte zwölf Nächte lang jeweils ein anderes Tier über die Morgantau-Menschen und kein einziger verschwand in
dieser Zeit. Am dreizehnten Tag kam die Reihe an den Affen.
Der Affe begann während seiner Nachtwache zu überlegen: „Warum soll ich die Morgentau-Menschen beschützen? Je
weniger sie werden, desto heller wird die Nacht. Ich habe Angst in der Dunkelheit und sieh nur, wie schön die Lichter
am Himmel funkeln!“ So starrte er verträumt in die Nacht, und je länger er starrte, um so mehr Sterne blinkten nach
und nach auf.
Als der Affe ermüdet die Augen schloß, öffneten sich am Firmament zwei große weiße Augen. Die anderen Tiere erwachten
bei dieser plötzlichen nächtlichen Helligkeit und befürchteten das Schlimmste. Vergeblich suchten sie nach den
Morgentau-Menschen, sie fanden aber nur den selig schlummernden Affen vor. Voller Wut beschuldigten sie den Affen,
nicht auf die Morgentau-Menschen aufgepaßt zu haben. Der Affe konnte die Wut der anderen Tiere nicht verstehen und
wies immer wieder darauf hin, wie wunderschön doch die Sterne und die Monde den nächtlichen Himmel erhellten. Da
jagten ihn die anderen Tiere voller Wut und Zorn davon. Der Affe schwor daraufhin Rache.
Am nächsten Morgen sahen die anderen Tiere voller Entsetzen, wie große, kräftige affenähnliche Wesen, pervertierte
Karikaturen der alten Morgentau-Menschen, die Steppen durchstreiften und überall wo sie vorbeikamen, Chaos und
Zerstörung hinterließen. Diese frevelhafte Tat des Affen gab ihnen den Rest und sie machten sich auf, den Affen zu
suchen. Adler und Rabe erblickten ihn mit ihren scharfen Augen, der Luscin betörte ihn mit seinem Gesang, der
pfeilschnelle Eldor fing ihn zusammen mit dem Hasen ein, die Schlange fesselte ihn, der Frosch belegte ihnn mit einem
Bannzauber und Bär, Wolf, Ratte und Löwe zerrissen ihn schließlich gemeinsam. Alle Tiere zusammen fraßen das Fleisch
des verräterischen Affen und hofften nun, seine Macht gebrochen zu haben. Das zweite weiße Auge am Firmament färbte
sich mit dem Blut des Affen rot. Doch die wilden haarigen Kreaturen lebten weiterhin in den Steppen.
Und so erschufen die zwölf Tiere jeweils ein Menschenpaar, geformt nach ihren Vorstellungen und ausgestattet mit den
jeweils besten Eigenschaften der Tiere. Und sie nannten diese neuen Menschen DalRé – die Harten Menschen – ein
wildes, sarkes, zähes und kriegerisches Volk. Die Dalré sahen es als ihre höchste Aufgabe an, die Kreaturen des Affen
zu bekämpfen, zu vernichten oder zumindest aus den heiligen Landen der tierischen Ahnen zu vertreiben. Denn wenn die
Kreaturen des Affen vernichtet sein würden – so hofften die Tiere – würden die Morgentau-Menschen wieder zurückkehren
können.
Und so kämpfen die Dalré bis zum heutigen Tage todesverachtend und mit wilder Entschlossenheit gegen die Zhubair.
Selbst nachdem das Erbe der zwölf verschiedenen Tiere die Nachkommen der zwölf ersten Menschenpaare mehr und mehr
voneinander trennte, so blieben sie doch in diesem einen Punkt stets einer Meinung und kämpften in Einheit und voller
Vertrauen gegen ihre gemeinsamen Feinde und so wird es für immer sein, bis die Kreaturen des verräterischen Affen für
immer vernichtet sein werden.
In der Tat ist der Kampf gegen die Zhubair das zentrale einende Thema, das alle Stämme vereint gegen ihre Feinde
stehen läßt. Angesichts eines solchen Kampfes werden sämtliche Stammesfehden hinfällig und nur der gemeinsame Kampf
zählt. Dabei stürzen sie sich mit absoluter Todesverachtung und Grausamkeit in den Kampf, daß die Zhubair seit langer
Zeit nichts als nackte Angst empfinden, sollten sie einmal in den Kampf mit Dalré verwickelt werden. Selbst bei einer
zehnfachen Überlegenheit der Zhubair sind diese nur selten als Sieger aus einem Kampf hervorgegangen.
(me)
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