Die südlichen Steppen
„Verbringe nur kurze Zeit in der Steppe und es wird dir gleich sein Tag und Nacht, denn verlieren
wirst du dich in Einförmigkeit und Weite. Du brauchst Zeit. Verbringe den Sommer in der Steppe, studiere die Wolken am
Himmel, die sanften Wellen des Landes, die Pracht der Blüten und Gräser, die Wanderungen der Čén und der Tiere.
Langsam begreifst du die Vielfalt in der Eintönigkeit, die nur deine gewachsene Geduld wahrnehmen kann. Verbringe dein
Leben in der Steppe, und du wirst eins mit ihrer Schönheit, die du nun in ihrer Gesamtheit erkennst.“
Weise Ošosù von den Gannôg-Sír-čén
Landesnatur, Klima, Vegetation und Tiere
Der Süden Garčal-kôrs besteht größtenteils aus den kalten Grasländern der Sír-čén-Steppe und der
Chel-čén-Steppe.
Die Sír-čén-Steppe ist das breite Tal zwischen der Sírchalkette im Westen und den Kôrnbergen im Osten. Im Norden
wir sie vom Unterlauf des Sír-čîn begrenzt und im Süden vom Flusslauf des Ločîn. In dieser abgelegenen fast
baumlose Ebene ohne allzu viele Merkmale streifen die Sír-čén umher. Die „Eisen-Läufer“ der „Eisen-Steppe“ sind
wenig furchtsame, von Entbehrungen und Mühen gezeichnete Persönlichkeiten.
Östlich der Kôrnberge findet sich die weitaus größere Chel-čén-Steppe. Sie zieht sich südlich von
Šachštsi bis hin zur Walbucht. Die dortigen Nomaden werden Chel-čén (=„Hoffnungs-Läufer“) genannt.
Hier aus dieser Gegend sollen die Čén ursprünglich stammen, bevor sie sich nach Norden verbreiteten.
Nur auf 20.000 Sír-čén und ungefähr 70.000 Chel-čén wird die Anzahl der durch die Steppen streifenden Nomaden
geschätzt.
Die südlichen Steppen erscheinen als ein endloses gräsernes Meer, eintönig und von erdrückender Einsamkeit. Durch das
Fehlen von Bäumen oder auch nur größeren Sträuchern reicht die Sicht oft dutzende Meilen weit. An manchen Tagen glaubt
man, in der Ferne andere Lebewesen auszumachen, nur um dann festzustellen, dass diese sich gewiss eine Tagesreise
entfernt finden. In der gleichförmigen Beschaffenheit der Steppe erkennen die hier ansässigen Nomaden unglaubliche
Schönheit und Vielfalt, die endlosen Weiten verschaffen ihnen ein Gefühl von Freiheit und Sicherheit. Jeden noch so
kleinen Hügel, jeden Bach und jede Baumgruppe weiß ein Sír-čén oder Chel-čén zu unterscheiden. Die Steppe ist
für ihn nicht eintönig sondern unglaublich vielfältig – auch wenn es eine Herausforderung darstellt, diese vielen
Nuancen erst zu entdecken, bevor sie ergründet werden. Der Wechsel von Tag und Nacht, von Sonne und Sturm kleidet das
Land in unzählige Farbtöne, die von Leben und Kraft künden.
Auch mit den Jahreszeiten wandelt auch die Steppe ihr Gesicht. Klima und Vegetation der beiden Steppen sind
größtenteils nahezu identisch, obwohl im Tal der Sír-čén-Steppe die weitaus kärglicheren und extremeren Bedingungen
herrschen. Die Winter sind streng und überziehen das Land mit einer dichten Schneedecke. Senàs‘ Atem wirbelt gewaltige
Schneestürme auf und lässt dichte Schneewehen entstehen. Das Frühjahr bringt häufig weiträumige Überschwemmungen mit
sich, aber lassen auch die Steppen farbenprächtig erblühen. Die Sommer sind kurz und trocken, und des öfteren geht die
Steppe in der trockenen Jahreszeit in Flammen auf. Der Herbst zuletzt beendet jäh die warme Zeit, der Übergang zum
Winter ist mit häufigen Kälteeinbrüchen meist sehr abrupt und wenig angenehm. Wenn Wind und Regen mit ganzer Kraft
wüten, so ist Vorsicht erbeten, da Schutz vor den Unbillen der Natur hier nur schwer zu finden ist.
Senàs‘ Atem, fegt ganzjährig häufig über das Land, und ein Südostwind, der Chis-Kôru („Der vom Meer
kommende“), taucht die Landschaft ab und an in dichten Nebel, ist aber nicht so schneidend wie der kalte Südwind, der in
der Sír-čén-Steppe noch um ein vielfaches stärker den Korridor zwischen den Bergen entlangfegt.
In beiden Steppen wachsen hauptsächlich genügsame Gräser, Flechten, Heidekraut, Beeren- und Zwergsträucher, selten mal
ein Chen-čâs. Die höher gelegenen Flanken der Berge – vor allem der Osthang des Gélechgebirges – bestehen dagegen
fast ausschließlich aus Chen-čâs-Wäldern.
Neben den Nomaden durchziehen gewalte Sírjanherden die Chel-čén-Steppe, während sie in der Sír-čén-Steppe in
vergleichsweise kleinen Gruppen unterwegs sind. Weiterhin finden sich stahlgraue Mammuts, die größten ihrer Art,
Wollnashörner, Karnickel, Hermeline, nicht zu vergessen die Šéks, die wilden Verwandten der Čén, Busch- und
Eiswölfe, Königshirsche, Fretts, Schneetiger und der eine oder andere furchterregende Gélech-gôl.
Ernährung, Rohstoffe und Wirtschaft
Die Chel-čén leben eng mit den großen Sírjanherden zusammen. Sie verwerten jedes noch so kleine Fitzelchen dieser
Herdentiere, die ihnen Milch, Fleisch, Felle, und mit ihren Knochen und Sehnen Material für Werkzeuge liefern. Des
öfteren verwenden sie auch das eine oder andere Sírjan als Pack- oder Zugtier – obwohl sie selbst diese Aufgaben ebenso
gut erledigen können. Auch die mächtigen Kôru-Šíkka, die sich während ihrer Paarungszeit in teilweise gewaltigen
Kolonien entlang der Ostküste sammeln, liefern ihnen eine Menge an Gütern. So fertigen sie aus den Hörnern der
„Meerbullen“ genau wie aus jenen der Sírjans Waffen und Kunstgegenstände. Sie treiben ferner einen umfangreichen Handel
in den wenigen Siedlungen der Sesshaften oder mit deren Handelsschiffen, wofür sie eben jene Güter eintauschen gegen
Metallgegenstände, Öle und Gewürze.
Für gewöhnlich bevorzugen sie aussichtsreiche Jagden, also Angriffe auf die Robben an Land und Schleich- und
Überraschungsangriffe auf große Herden. Pflanzliche Nahrung ergänzt den Speiseplan. Darunter fallen Früchte, Pilze und
Wurzeln, doch der pflanzliche Anteil an den Speisen ist im Vergleich zu den Sesshaften gering.
Die Sír-čén hingegen leben in ihrem Tal abgeschiedener, ohne die reichhaltigen Vorkommen an Robben und
Sírjanherden. Sie sind mehr auf die Jagd angewiesen, hetzen der Beute hinterher, sind furchloser und mutiger, allerdings
keineswegs gewalttätig oder grausam. Natürlich vertilgen sie auch alle verdauliche pflanzliche Nahrung, wobei sie nicht
sonderlich wählerisch sind. In schlechten Wintern ernähren sie sich von Aas und allem möglichen. Es gibt das böse
Gerücht, sie würden dann selbst Šéks und Menschen anfallen oder Jagd auf andere Sippen machen.
Vielleicht aufgrund solcher Erfahrungen oder einfach, um dem Verhungern vorzubeugen, halten sie ihre legendären
Herbstgerichte ab: Wenn eine Herde viele Mitglieder, aber wenig Nahrung hat, wird dabei durch sportliche
Wettkämpfebestimmt, wer in der Herde bleiben darf.
Der Name Sír-čén, Eisen-Läufer, rührt daher, dass es unter ihnen die hochgeachtete Berufsgruppe der Eisensucher
gibt. In einer langjährigen Ausbildung erwerben sie die Fähigkeit, anhand von Landschaftsmerkmalen oberflächliche
Eisenvorkommen zu erahnen, sei es Raseneisenstein, der sich nur knapp unter der Grassode verbirgt oder in Felsbrüchen
zutage tritt, oder auch ausgewaschene Kiesel in den eisenhaltigen Flüssen und Bächen der Sírchalkette, die nach der
Schneeschmelze im Frühling durchsucht werden. Das eisenhaltige Gestein wird in stationär errichteten Lehmöfen
geschmolzen und verhüttet und später zu Gebrauchsgegenständen verarbeitet. Verglichen mit den Eisenerzvorkommen, welche
die Sesshaften aus ihren Minen holen, sind jene der Sír-čén äußerst gering und unergiebig, weshalb niemand auf die
Idee kommt, den Nomaden ihre Ressourchen streitig machen zu wollen.
Das Wissen um die Eisengewinnung und -verarbeitung im Südwesten stammt allerdings ursprünglich von den Sír-čén.
Unterkünfte
Die Nomaden errichten keine Zelte, in denen sie vor den Urgewalten von Wind und Wetter geschützt wären.Durch ihr dichtes
und zottiges Fell sind sie genügend vor Nässe und Kälte geschützt, drängen sich zum Schlafen höchstens in Gruppen
zusammen, deren Mitglieder nach einiger Zeit von der Mitte zum äußeren Rand wandern, damit jeder einmal die Wärme der
Gruppe und den kalten schneidenden Wind spürt.
Ein echter Nomade ist daran gewöhnt, jederzeit den freien Himmel über sich zu haben und fühlt sich in jeder Bedrängnis
durch Wände und Dächer durchweg unbehaglich.
Lediglich zum Schutz ihrer Habseligkeiten, Vorräte und Handelswaren werden kleine Zelte errichtet, die aus halbrund
gebogenen hölzernen Streben bestehen, über die man eine Schicht einfacher Lederhäute gespannt hat. Die überhängenden
Lederfetzen werden zum Schutz vor dem Wind entweder mit Steinen beschwert oder in den Boden eingegraben.
Lebenszyklus
Mit dem Wechsel der Jahreszeiten folgen die Nomaden den Tieren nach Süden. Die Reise der Sír-čén führt sie lediglich
bis zu den Ufern des oberen Ločîn (in die bewaldeten Gebirgshänge des Gélechgebirges, die sich weiter südlich
anschließen, wagen sie sich nicht). Dort verbringen sie den Sommer, bevor es im Herbst wieder in ihre nördlichen
Winterquartiere am Oberlauf des Sír-čîn geht.
Die Chel-čén hingegen sind mit ihren Sírjans ständig in Bewegung. Ihr Weg führt sie dabei teilweise bis in die Nähe
des Khelečîn, der im Süden in die Walbucht mündet. Nur kurz verweilen sie so weit südlich, bevor es auch schon
wieder züruck über den Ločîn, und wenig später beginnt mit Beginn der Frühlingssonne die Reise wieder von vorn.
Beide Nomadenvölker sind auf ihren Reisen wenig zimperlich, durchqueren bedenkenlos die Fluten der Flüsse, die ihren Weg
kreuzen, ohne sich lang auf die Suche nach einer Furt zu machen. Sie können gut schwimmen. Mehr als sie selbst und ihre
Packtiere tragen und brauchen, schleppen sie nur selten mit sich herum.
„Lebe in Freiheit und entscheide selbst, ob du schnell oder langsam sterben willst“ lautet die Devise, nach
welcher die Nomaden leben. Wohl kein Mensch wäre in der Lage, das strapaziöse Leben der Steppenbewohner zu teilen, und
selbst die sesshaft gewordenen Čén haben sich doch viel zu sehr an die Bequemlichkeit fester Behausungen gewöhnt.
Mitunter haben auch einzelne Nomaden genug von den Strapazen des Wanderdaseins und schließen sich den Sesshaften an. Sie
arbeiten meist für Händler oder für die Transportgilde als Träger oder Boten. Die Eisenläufer verdingen sich auch
manchmal als Söldner, und für einen guten Lohn gehen sie in harten Jahren gegen fast jeden Feind vor. Allerdings tun sie
dies nur, wenn sie sich ihrer Entlohnung sicher sind und eine Chance sehen, diesem Kampf lebendig zu entkommen. In die
Minen gehen sie nicht, denn Platzangst und Aberglaube machen die Arbeit dort für sie zur unerträglichen, schmerzhaften
Qual.
Die ewigen Wanderer der südwestlichen Steppen machen mit weniger als einhunderttausend Individuen nur einen kleinen
Teil ihrer Art aus. Wie sie den Widrigkeiten der Naturgewalten und der Kälte des Winters trotzen, das nötigt den
sesshaft gewordenen Bewohnern Garcal-kôrs den allerhöchsten Respekt ab, und flößt ihnen auch zugleich Hoffnung ein. Denn
solange sich die Nomaden der weltenfressenden Kälte von Senás widersetzen, ist das Ende der Welt noch lange nicht
gekommen.
(dr, me)
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