Kolonie Ytryl - Provinz in der Ferne
Die älteste Siedlung, die die Lathan außerhalb ihres Heimatreiches gründeten, liegt noch heute auf der großen
Insel Ytryl, wie sie die Besucher tauften. Ytryl ist das latalländische Wort für die Ferne, denn bald vierhundert
Meilen nordwestlich von Lutai gelegen, kann man diese Kolonie wirklich nicht mehr dem Latalländischen Kernland
zurechnen.
Vielmehr hat sich auf der grünen Insel seit ihrer Kolonisierung vor etwa zweitausend Jahren – 3153 nach dem Beben –
ein autarker Vorposten in den nördlichen Gefilden entwickelt. Auch wenn die Leibgarde und die Marine des Krasi für
die Sicherheit von Ytryl verantwortlich sind, hat die staatliche Struktur der Insel nicht viel mit dem feudalen
System des Heimatlandes gemein. Hier herrscht Demokratie und Gleichbehandlung aller drei Geschlechter, wie es auch
noch immer bei den Iadnern der Fall ist. Gerade deswegen ist die Staatsform der Kolonie den Adligen am Hofe in Bolon
und besonders den selbsterkorenen Anwärtern auf den Thron in Bolon ein Dorn im Auge. Nicht unbegründet fürchten
daher die Lathan auf Ytryl eine Änderung der Gesellschaftsordnung in Anpassung an die Gebräuche des Heimatlandes,
sobald der alte Krasi in die Annalen der Geschichte entschlummert und ein neuer Krasi die Zügel in der Hand hält.
Daher unterstützt man auf Ytryl mehr oder weniger offen die Bestrebungen des Geheimbundes der Regimegegner, in einem
Staatsstreich das Volk in eine Republik zu führen.
Ytryl ist eine Insel von wahrhaft paradiesischer Schönheit. Es ist warmfeucht, so daß das Leben im ganzen Jahr
hindurch eine angenehme Umgebung vorfindet. Abgesehen von den heftigen Stürmen, die vom Solischen Ozean aus in
Richtung des Festlandes ziehen, ist es hier auch nicht im Übermaß windig, Flaute erlebt man hier allerdings auch
nur selten. Die über dem Meer vom Himmel aufgesogene Feuchtigkeit prasselt allabendlich in Form heftiger Gewitter
und Regenschauer auf den dichten Regenwald der Insel, nach denen die Luft so klar und kühl ist wie es die Lathan
von ihren eigenen Inseln nicht kennen.
Die Insel ist von Norden nach Süden etwa 150 Meilen lang und an der breitesten Stelle 50 Meilen breit. An der
Ostküste fällt das Land über steile Klippen ins Meer ab, während es nach Westen hin über Berge, sanfte Hügel, Dünen
und schließlich einen langgestreckten Strand in flaches Wasser und über die Riffe der Westküste letztendlich ins
Meer übergeht. Dazwischen liegt dichter Urwald, von Pflanzen und Tieren nur so platzend.
Auf Ytryl fanden die Lathan neue Rohstoffvorkommen, unbekannte Pflanzen, seltsame Tiere und rätselhafte Früchte. Sie
glaubten fest bei den ersten Besiedelungen daran, einen Teil des Landes gefunden zu haben, das man aus Iadnischen
Schriften als das Festland kannte, doch sie stießen nicht auf die angekündigten Festlandwesen. Das kümmerte sie
allerdings nicht sehr, denn es galt eine neue Welt zu erforschen. Die Neugier und der Entdeckerdrang der Lathan
lief sich also zunächst an dieser unbezweifelbar schönen Insel fest. Bis ungefähr 3350 nach dem Beben war man viel
zu beschäftigt mit dem Ausbau der Siedlungen und den Erkundungen dieses Fleckens Erde, als daß man sich anderen
Entdeckungen hätte zuwenden können.
Heute ist dies anders. Nachdem sich die Kultur dieser Insel zweitausend Jahre lang ungestört vom Kernland entwickeln
konnte und dabei über die letzten tausend Jahre von den Kontakten mit Händlern aus Übersee profitierte, hat sich
eine dichte Siedlungsstruktur ausgebildet, die primär im Süden liegt, wo der Schiffsverkehr auf dem Weg in die Häfen
nicht durch Riffe gefährdet wird. Etwas mehr als 10.000 Bewohner leben und arbeiten auf der Insel, etwa ein Drittel
davon in der einzigen als Stadt bezeichenaren Struktur und gleichzeitig Hauptstadt an der Südspitze: Ytryloc.
Die Bewohner von Ytryl haben sich vollständig auf den Fernhandel eingestellt – jeden Tag herrscht unvorstellbares
Treiben auf den Märkten in der Stadt und vor allem im Hafen selbst, in dem ein ewiges Kommen und Gehen der Schiffe
herrscht. Unter den überwiegend Latalländischen Händlerschiffen sind kleine Schoner aus Sowol, wie auch bedingt
seetüchtige Schiffe aus den Ländern Ad-il Myt und Kal, die hier alle um Preise feilschen und ihre Waren umschlagen.
Die auf vierzig Jahre gewählte Stadtälteste Rurk Kempat Daatek – eine fünfzigjährige Loptoc – bemüht sich sehr darum,
die Kontakte zu den Ländern des Nordens zu vertiefen und Handelsbeziehungen zwischen den nördlichen Ländern und den
Ländern der südlichen Ostküste zu etablieren. Denn ihr ist sehr wohl bewußt, daß jeder Handel von Norden nach Süden
oder auf dem umgekehrten Weg an der Kolonie Ytryl nicht vorbeikommen wird. Sollte sie mit ihren Bemühungen Erfolg
haben, so wird dies zweifelsohne den Wohlstand der Insel noch weiter vergrößern. Zwar sind die Straßen hier nicht
wie in den alten Sagen mit goldenen Platten gepflastert, doch die Funktion als Schaltstelle des Handels hat die
Kolonie erblühen lassen. Daher gibt es noch immer einen steten Zustrom von Abenteuerwilligen, die sich hier
niederlassen wollen. In den vergangenen, dreißig Jahren ist wegen der wachsenden Mißstände im Kernland der
Aussiedlerstrom stetig angewachsen – viele dieser Aussiedler haben allerdings Latalland endgültig den Rücken
zugekehrt und begnügen sich nicht damit in die Kolonie des Mutterlandes auszuwandern. Viele begeben sich auf
Entdeckungswanderschaft in die Gegenden von Sowol, Kal und Ad-il Myt oder die dschungelhaften nördlichen Küsten
Espers, weshalb die Lathan in diesen Gegenden eigentlich kein ungewöhnlicher Anblick mehr sind.
(nn)
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